Kapitel 1 – Romantische Gefühle
„Nicht die Dinge sind romantisch, weder Roman, noch Tisch, sondern wir.“ (Erhard Blanck)
Mit großen Schritten läuft Savannah schnell durch die noch menschenleeren Straßen. Die Luft um sie herum ist eiskalt und – anders als viele andere – liebt sie genau dieses Wetter. Sie liebt die klirrende Kälte, die mit einem sanften, fast zärtlichen Prickeln ihre zierliche Nase und die Wangen rot färbt, den Atem zu sichtbaren, kleinen Nebelschwaden formt und einen Moment der Stille schafft. Im spärlichen Licht der Straßenlaternen beobachtet sie das Spiel von Frost und Raureif, das die Luft glitzern lässt. Es scheint, als würden die winzigen Eiskristalle in der Luft zu Boden tanzen.
Savannahs dünne Beine beginnen vor Kälte zu zittern und so läuft sie noch ein wenig schneller. Die Backsteinhäuser zu beiden Seiten der Straße sind noch dunkel und sehen wie leblose, kalte Riesen aus, die darauf warten, dass sich ihre Bewohner aus den Betten schälen und sie mit Leben und Wärme erfüllen. Savannah biegt auf einen Fußgängerweg, der von unzähligen Bäumen und Sträuchern gesäumt ist, und sieht in der Ferne das imposante Gebäude der Ernest-Aggerty-Group. Eine bitterkalte Brise lässt ihre braungrünen, leicht asymmetrischen Augen tränen, zerzaust ihre aschblonden, langen Locken und färbt ihre kleinen Ohren noch ein wenig röter. Der Weg wird zunehmend steiler und dennoch verringert sie das Tempo nicht. Das Bürogebäude, in dem sie seit vier Jahren arbeitet, ragt immer höher vor ihr auf. Sie verlangsamt ihre Schritte erst, als sie am Fuße der knapp einhundert Stufen steht, die zu dem Gebäude emporführen.
„SAVANNAH.“
Savannah dreht sich, etwas außer Atem geraten, um. Ihre beste Freundin, Cherry Emanueli, kommt so schnell es ihre kurzen Beine zulassen auf sie zu getrippelt, eingehüllt in einen dicken dunkelgrauen Wintermantel, halbhohe schwarze Gummistiefel und eine rosafarbene Baskenmütze.
„Hey, na wie geht es dir?“, fragt Savannah wie gewohnt und schließt sie in eine kurze Umarmung, bei der ihr der vertraute Geruch von Vanille entgegenschlägt.
„Frag nicht“, antwortet Cherry verschnupft. „Es hat mich voll erwischt. Ich habe das ganze Wochenende flachgelegen.“
„Oh, nein. Das tut mir wirklich leid, Cherry“, antwortet Savannah und betrachtet die rauen Betonstufen vor sich. Der Bodenfrost glitzert an einigen Stellen und das Tausalz knirscht unter ihren Füßen, als sie gemeinsam die Stufen nach oben steigen.
„Eigentlich hatte ich am Wochenende so viel vor.“ Knirsch. „Josy und ich wollten…“ Knirsch. „… aber das konnte ich wirklich vergessen.“ Cherry hustet. „Fieber, Schüttelfrost, Halsschmerzen, Schnupfen, Husten …“ Knirsch. „Ich habe nichts ausgelassen.“ Sie hält kurz inne und atmet schwerfällig. „So elendig habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt, Sav, und schuld daran ist dieses Wetter.“ Wieder schlägt Savannah eine frostige Brise ins Gesicht und sie schließt für einen kurzen Moment die Augen. Mit einem tiefen Atemzug füllt sie ihre Lungen mit der eisigen Luft. Sie ist durch und durch ein Kind des Winters. „… diese Treppen bringen mich noch um“, hört sie Cherry neben sich schimpfen. „Wenn ich heute nicht so viel zu tun hätte, wäre ich im Bett geblieben.“ Cherry kramt ein Taschentuch aus ihrer Jackentasche und schnäuzt lautstark hinein. Savannah blickt wortlos zu dem tristen, grauen Betonblock vor ihnen. Ein Großteil der unzähligen Fenster ist noch tiefschwarz. Das Gebäude ragt unnachgiebig vor ihnen in der Dunkelheit auf. Es wirkt gnadenlos, wie es mit seinen scharfen Ecken und Kanten die weiche, friedliche Hügellandschaft des Hintergrundes durchbricht.
„Und wie war dein Wochenende?“, fragt Cherry.
„Genau genommen habe ich das Wochenende auch im Bett verbracht. Anders als du allerdings mit einem wunderbaren Buch.“
„Also hast du nichts Spannendes zu berichten? Nichts, weshalb mir die Kinnlade herunterklappen würde?" Savannah verbeißt sich eine spöttische Bemerkung zu Cherrys ‚aufregender‘ Wochenendgeschichte und antwortet mit einem knappen „Nein“. Vermutlich meint Cherry nicht den Inhalt ihres Romans und mehr hat Savannah tatsächlich nicht zu erzählen.
„Bist du sicher?“ Cherry schenkt ihr einen ihrer vielsagenden Blicke. Ihre großen schokoladenfarbenen Kulleraugen versuchen Savannah zu durchleuchten, während der kalte Wind Cherrys weiche, hellbraune Locken zur Seite bläst, um ihre zarten Wangenknochen zu entblößen. Stumm blickt Savannah zu Cherry und stellt fest, dass sie heute nicht so richtig schlau aus ihr wird.
„Na gut. Ehrlich gesagt habe ich eine Bitte an dich, Sav, und ich hoffe, du tust mir diesen klitzekleinen Gefallen.“
„Worum geht es?“
Statt einer Antwort presst Cherry ihre vollen Schmolllippen aufeinander und reißt ihre großen Augen noch ein Stück weiter auf. Es ist ihre Art, eine dramatische Pause einzulegen, bevor sie ihre Bitte endlich laut ausspricht: „Du müsstest mir eine Handynummer besorgen.“ SO klitzeklein findet Savannah ihre Bitte nicht.
„Bevor ich ja sage, möchte ich wissen von wem.
„Okay, also bist du bereit?“, fragt Cherry gedehnt und genießt die Spannungspause, die entsteht, bevor sie ihre vermeintliche Bombe platzen lässt, bei der Savannah sprichwörtlich die Kinnlade herunterklappen soll.
Wer könnte ihr den Kopf verdreht haben? Savannah fallen spontan nur zwei mögliche Kandidaten für Cherry ein: Kash Lonaghan, der sportliche Schönling aus ihrer Abteilung, oder Moris Wanner, der Hobbygitarrist.
„Jetzt sag schon. Wer ist es?“, fragt Savannah genervt, als sie endlich die letzten Stufen emporgestiegen sind. Cherrys Gesichtsausdruck schwankt zwischen Belustigung und Geheimnistuerei. Savannah kann förmlich sehen, wie es in ihrem Kopf rattert und Cherry sich sekündlich fragt, ob sie es sagen soll oder nicht.
„Logan Adams“, kiekst Cherry aufgeregt. Savannah prallt im selben Moment mit voller Wucht gegen die Flügeltür des Eingangsbereiches und noch bevor ihr tatsächlich die Kinnlade herunterklappen kann, raubt ihr ein dunkler Sog das Bewusstsein.